DOK.fest 2015: Tag 2 & 3

Inzwischen hat sich bei mir richtiges Festivalfeeling eingestellt. Eigentlich wollte ich nämlich schon gestern einen neuen Blogpost verfassen, habe dann aber zu lang geschlafen, weil ich am Freitag zu spät ins Bett gekommen bin. So ist das halt auf Filmfestivals – es ist zu wenig Zeit, um wirklich alle tollen Filme zusehen und erst recht, um auch noch andere Dinge zu tun (zum Beipspiel komme ich auch kaum dazu, die Bücher und Zeitungen zu lesen, die ich mit mir von Kino zu Kino  schleppe). Hier ist nun also mein Bericht über die Filme, die ich gestern und vorgestern gesehen habe.

„El Hogar Al Revés“ erzählt von einer Clique Jugedlicher im mexikanischen Tijuana. Wobei der Film genau genommen gar nicht wirklich „erzählt“; was mir nämlich an „Man On Wire“ noch sehr stark aufgefallen ist – dass dort eine in ihrem dramaturgischen Aufbau fast schon fiktional wirkende Geschichte erzählt wird (was sich in diesem Fall auch anbietet) – das ist hier überhaupt nicht der Fall. Itzel Martínez del Cañizo begleitete die Jugendlichen für ihren Film über ein Jahr mit der Kamera und lässt den Zuschauer an deren Alltag teilhaben. Dabei vermittelt sie aber gerade, dass es hier nichts Außergewöhnliches zu erzählen gibt. Die Teenager tanzen auf der Straße, unterhalten sich über Videospiele und Popkultur, sprühen Graffiti auf eine Mauer und haben Sorgen in Liebesdingen. Ganz normale Jugendliche eben.

El Hogar Al Revés

Copyright: DOK.fest München / El Hogar Al Revés

Es fällt allerdings auf, dass den ganzen Film über kaum Erwachsene zu sehen sind. Bei der Siedlung, in der die Teenager leben, handelt es sich um eine am Reißbrett geplante Reihenhaussiedlung, die mich an die Vorstadthäuser aus Tim Burton-Filmen wie „Edward Scissorhands“ erinnert hat. Dutzende gleich aussehender Häuser reihen sich hier aneinander, und die Abwesenheit der Erwachsenen hat den einfachen Grund, dass diese die meiste Zeit über arbeiten, um die Kredite für die teuren Häuser abzubezahlen. So wachsen die Kinder fast nur unter sich auf und im Film wird dabei nicht der Eindruck erweckt, es ginge ihnen deswegen in irgendeiner Weise schlecht. Natürlich haben sie Sorgen und Probleme. Einer von ihnen, der in den USA geboren wurde, möchte dorthin zurück kehren. Ein anderer hat seine Freundin geschwängert. Weil die Eltern nie da sind, müssen die Teenager für einander da sein, um über all diese Dinge zu sprechen. Die Clique wird zur Ersatzfamilie. Einer der Jungen bringt es auf den Punkt als er sagt, seinen Freunden könne er alles erzählen, aber wenn er seiner Mutter berichte, was er den Tag über gemacht habe, dann höre die gar nicht richtig zu.

Ce Qu'il Reste De La Folie

Copyright: DOK.fest München / Ce Qu’il Reste De La Folie

Ähnlich beobachtend und ohne eine Wertung abzugeben ging es bei „Ce Qu’il Reste De La Folie“ weiter. Der Film von Joris Lachaise bringt dem Zuschauer den Alltag einer psychiatrischen Klinik im Senegal näher. Die Kamera blickt auf das Geschehen – Patienten, die die Pfleger anflehen, weil sie nicht in eine Einzelzelle gesperrt werden wollen oder auch solche, die die Welt um sich herum gar nicht richtig wahr zu nehmen scheinen. Dazwischen immer wieder die Schriftstellerin Khady Sylla, die selbst eine lange Geschichte psychischer Leiden hinter sich hat und nun von den Ärzten Antworten verlangt. Der Film zeigt aber nicht nur die westlich-moderne Herangehensweise an psyichische Krankheiten, wie sie in der Klinik praktiziert wird, sondern auch traditionelle und religiöse Heilungsmethoden. So wird man Zeuge von Ritualen, in die lebende Tiere eingebunden sind (hier habe ich mich an ähnliche Schilderungen aus Andrew Solomons großartiger Depressions-Studie „The Noonday Demon“ erinnert gefühlt, die auf deutsch als „Saturns Schatten“ erschienen ist). All das wird aber nicht kommentiert. „Ce Qu’il Reste De La Folie“ ist kein Film, der Antworten liefern will, sondern einer, der den Zuschauer zum Nachdenken anregt. Und das ist beim Thema „psychische Krankheiten“, über das noch immer viel zu viel geschwiegen wird, auf jeden Fall gut.

Gestern Nachmittag ließ ich mich in meinem ersten Film des Tages in die weiten Wüsten der USA entführen. Für jemanden wie mich, der von den Vereinigten Staaten bislang relativ wenig gesehen hat, sind die Größe und Vielfalt dieses Landes immer wieder faszinierend. Bei den USA denke ich als erstes an New York, Kalifornien und große Metropolen. Doch mitten in diesem Land gibt es weite Landstriche, in denen kaum ein Mensch lebt. „Desert Haze“ bringt dem Zuschauer einige davon nahe. Der Regisseurin Sofie Benoot gelingen dabei wunderschöne, fast schon meditative Bilder. In langen Einstellungen nimmt sie die wunderbaren, teils bizarren Landschaften in den Blick.

Desert Haze

Copyright: DOK.fest München / Desert Haze

Mit Leben gefüllt wird der Film durch die Menschen, die Benoot zusätzlich zu den Landschaften portraitiert. Da ist zum Beispiel der japanische Countrymusik-Liebhaber, der seit Jahrzehnten dort wohnt und vor der Kamera ein Ständchen gibt. Oder die Wissenschaftlerin, die in der Wüste den Aufenthalt auf dem Mars zu simulieren versucht. (Nur ganz nebenbei: Sie erzählt dabei unter anderem von den Vorteilen japanischer Steingärten, die sich schließlich auch dort anlegen lassen, wo die unwirtlichen Bedingungen kaum Vegetation zulassen. Solche Gärten könnten ihrer Meinung nach den ersten Menschen auf dem Mars als Orte der Entspannung und Beruhigung dienen. Dies zeigt mir einmal mehr, wie sehr die Zukunftsvision, die J. Michael Straczynski für „Babylon 5“ entworfen hat, in sich schlüssig und gut durchdacht ist – dort gibt es nämlich aus demselben Grund ebenfalls einen japanischen Steingarten auf der Raumstation.)

Mit seinen imposanten Bildern, den teils skurrilen Gestalten und den Geschichten, die sie zu erzählen haben, ist „Desert Haze“ ein zwar äußerst ruhiger und langsamer Film, der mich zumindest aber nie gelangweilt, sondern beruhigend auf mich gewirkt und Ehrfurcht vor der Natur in mir geweckt hat (auffallend viele andere Zuschauer haben allerdings während der Vorführung das Kino verlassen). Zusätzlich habe ich noch den einen oder anderen interessanten Fakt gelernt, zum Beispiel über die Atomwaffentests in der Wüste von Nevada (über die ich bislang nur aus „Indiana Jones“ bescheid wusste).

Drone

Copyright: DOK.fest München / Drone

Ganz und gar nicht ruhig und meditativ ging es anschließend mit „Drone“ weiter. Der Film nimmt die Praxis der USA unter die Lupe, mit Hilfe von unbemannten Drohnen vermeintliche Terroristen auszuschalten. Es kommen unter anderem ehemalige Drohnenpiloten zu Wort, die die Fluggeräte sicher vom Boden aus gesteuert und dabei zahlreiche Menschenleben ausgelöscht haben. Der Film klagt an, wirft Fragen auf und weist auf diejenigen Menschen hin, die unschuldig unter den Drohnenangriffen zu leiden haben: die überlebenden Angehörigen der Opfer, aber auch diejenigen, die den Angriffen als Unschuldige zum Opfer fallen. Wie kann so etwas überhaupt passieren? Und sind nicht alle Opfer der Drohnenangriffe zivile Opfer, da die USA ja niemals Beweise für deren terroristische Aktivitäten vorgelegt haben? Ganz besonders verstörend ist die am Schluss des Films aufgeworfene Frage, was eigentlich geschehen würde, wenn viel mehr Länder so verfahren würden wie die USA. Und kurios, aber nicht überraschend ist der Fakt, dass die Drohnentechnologie ursprünglich zur Beobachtung von Tunfischschwärmen entwickelt worden war. Kein einziges Exemplar sei an Fischer verkauft worden, erklärt einer der Entwickler im Film. Aber mit dem Krieg lässt sich ein Milliardengeschäft machen.

Nicht weniger verstörend, aber mit einem ganz anderen Thema beschäftigte sich mein letzter Film des Tages. „Nicht alles schlucken“ ist eine weitere Dokumentation, die sich mit einem der Schwerpunktthemen des diesjährigen DOK.fest beschäftig: Psyche und psychische Krankheiten. Wie der Titel schon andeutet, geht es hier vor allem um Psychopharmaka. Die Regisseure Jana Kalms, Piet Stolz und Sebastian Winkels haben dabei eine ebenso simple wie effektive Herangehensweise gewählt: Eine Reihe von Menschen, die zu dem Thema etwas zu sagen haben, sitzen im Stuhlkreis und berichten von ihren Erfahrungen. Unter ihnen sind Betroffene, Angehörige und einige Pfleger und Ärzte. Der Film vermittelt dem Zuschauer erfolgreich das Gefühl, mittendrin zu sein. Von der Mitte des Kreises aus gefilmt, fängt er die Sprechenden stets auf Augenhöhe ein, sodass man nie das Gefühl hat, zu ihnen herauf oder hinab schauen zu müssen. Kein Voice Over, keine Einblendungen und keine Musik lenken vom Geschehen ab. So konfrontiert der Film einen direkt mit den teils sehr harten Schicksalen, die in den Erlebnisberichten zum Ausdruck kommen.

Nicht alles schlucken

Copyright: DOK.fest München / Nicht alles schlucken

Dabei konzentriert sich „Nicht alles schlucken“ von Anfang an ganz auf die Praxis, psychisch kranke Patienten in Kliniken mit Medikamenten ruhig zu stellen und sie damit zwar vielleicht von ihren Symptomen zu befreien, ihnen aber auch einen Großteil ihrer Lebensqualität zu nehmen. Abhängigkeit und Nebenwirkungen bestimmen fortan das Leben vieler Betroffener, doch das Absetzen der Medikamente stellt häufig die schlimmere Alternative dar. Der Film ist wie gesagt in seiner Machart äußerst effektiv, inhaltlich war er mir allerdings viel zu einseitig. Dass Psychopharmaka durchaus vielen Menschen helfen, ohne ihr Leben zur Hölle zu machen, kommt hier nicht zur Sprache; ebenso fehlen Ausblicke auf mögliche Lösungsmöglichkeiten für das geschilderte Problem, was ich besonders schade finde. Gerade ein Film über dieses ernste, so viele Menschen betreffende Thema sollte meiner Meinung nach auch ein wenig Mut machen und Hoffnung verbreiten. Statt dessen könnte „Nicht alles schlucken“ im schlimmsten Fall sogar Zuschauer davon überzeugen, sich nie in eine psychiatrische Klinik zu begeben oder auf keinen Fall zu Psychopharmaka zu greifen, obwohl beides durchaus sinnvoll sein kann und längst nicht immer solch schwerwiegende Konsequenzen haben muss, wie sie hier geschildert werden.

Alle Filme werden im Lauf der nächsten Tage noch mehrmals auf dem DOK.fest München gezeigt. Weitere Infos und Trailer gibt es auf der Website des DOK.fest.

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