DOK.fest München 2015 – Noch drei Filme :-)

Heute ist der letzte Tag des 30. DOK.fest München. Ich habe es zwar gestern und heute nicht mehr ins Kino geschafft, möchte aber noch einmal über ein paar Filme bloggen, die ich auf dem DOK.fest gesehen habe.

Elephant's Dream

Copyright: DOK.fest München / Elephant’s Dream

Zunächst ist da „Elephant’s Dream“, sicherlich einer der am besten aussehendsten Filme des Festivals. Der Belgier Kristof Bilsen, der hier den Alltag in Kinshasa, der Hauptstadt des Kongo portaitiert, bringt wunderschön komponierte Einstellungen auf die Leinwand. Sein Film zeigt die andere Seite des Kongo, an die man nicht zuerst denkt, wenn man den Namen dieses Landes liest. Man sieht also in „Elephant’s Dream“ keine Soldaten und Gewehre, keine Unruhen oder bürgerkriegsähnliche Zustände. Ganz im Gegenteil ist dies sogar ein äußerst ruhiger Film. Das liegt zum einen an seinem Inhalt, denn die hier in den Mittelpunkt gerückten Personen haben gemeinsam, dass sie alle nicht besonders viel zu tun haben. Die Postbeamtin sitzt den ganzen Tag über hinter einer Glasscheibe an ihrem Schalter; selten bringt jemand einen Brief zu ihr. Der Bahnhofswärter sitzt neben den Gleisen, nur selten fährt mal ein Zug vorbei. Was genau hier die Hintergründe sind, warum also diese Menschen anscheinend zwar Berufe, aber trotzdem nichts zu tun haben, das erfährt man entweder nicht oder ich habe es in meiner Konzentration auf die schönen Bilder nicht mitbekommen. Und diese Bilder sind der zweite Grund, warum der Film so ruhig ist. Statt Handkamera setzt Bilsen auf Stativaufnahmen, statt vieler Schnitte auf lange Einstellungen.

Diese Inszenierungsweise gibt dem Film und seinen Zuschauern immer wieder die Gelegenheit, inne zu halten um zu staunen oder auch um sich zu wundern. Sie macht aber auch deutlich, dass die Grenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm fließend sind. Bilsen geht im Publikumsgespräch nach der Vorführung darauf ein, wie wichtig ihm die Ästhetik des Films war und dass die Einstellungen und Perspektiven, mit denen er seine Motive in Szene setzt, ganz bewusst gewählt sind (zudem erwähnt er, dass er auch das Sounddesign ganz bewusst gestaltet hat). Das ist natürlich bei anderen Dokumentationen auch der Fall, aber hier spielt sich die Inszenierungsweise eben sehr in den Vordergrund. Das ist an sich nichts Negatives und ich habe den Film auch sehr genossen. Allzu viel über den Kongo habe ich hier aber nicht erfahren.

Das Golddorf

Copright: DOK.fest München / Das Golddorf

Auch Regisseurin Carolin Genreith reißt in „Das Golddorf“ ein interessantes, ja brisantes Thema zumindest an: Asylbewerber in Deutschland. Der Ansatz, den sie gewählt hat ist eigentlich äußerst geschickt. Sie schildert den Alltag einiger Asylbewerber, die in einem Gasthaus im idyllischen Bergen im Chiemgau untergebracht sind und versucht, vor allem das Aufeinandertreffen von Einwohnern und Einwanderern in den Blick zu nehmen. Das gelingt auch immer wieder recht gut und ist dann am ergiebigsten und interessantesten, wenn die traditionsbewussten bayerischen Bürger aus der Perspektive der Neuankömmlinge gezeigt werden, die noch nicht einmal die deutsche Sprache beherrschen. Dann gelingt es Genreith, ihren und den Blick der Zuschauer so weit zu „ver-andern“, dass einem heimische Bräuche und Selbstverständlichkeiten mit einem Mal eben nicht mehr selbstverständlich erscheinen, sondern hinterfragt werden. Das geschieht wie gesagt meistens durch die Beobachtungen der aus Afghanistan, dem Senegal oder aus anderen fernen Ländern eingewanderten Asylanten. Ein paar Mal hakt Genreith jedoch auch selbst nach, beispielsweise als sie eine junge Frau filmt, die sich auf ein Treffen des örtlichen Trachtenvereins vorbereitet. Die Frau erklärt, sie müsse sich die Haare in einer ganz bestimmten Weise flechten und nach oben stecken, eben weil dies die anderen Frauen auch alle täten und alle Frauen im Trachtenverein die gleiche Frisur haben müssten. Genreith stellt ihr mehrmals die Frage, was geschehen würde, wenn eine Frau mit einer anderen Frisur zum Treffen auftaucht und bekommt schließlich zur Antwort: Das würde sich wohl keine trauen. Ich persönlich hätte an dieser Stelle noch weiter gefragt und wissen wollen, was denn in der Vorstellung der jungen Frau in einem solchen Fall wohl schlimmes passieren würde. Vielleicht hätte ich sogar versucht, sie zu überreden, mit einer „falschen“ Frisur zum Trachtenverein zu gehen und das filmen zu dürfen. Aber auch die Aussage der jungen Frau allein finde ich schon hoch interessant. Schade nur, dass Genreith nicht auch an anderen Stellen im Film so nachgehakt hat.

Anders als es die Thematik viellelicht vermuten lässt, ist „Das Golddorf“ ein erstaunlich konfliktarmer Film. Natürlich haben die Asylbewerber alle ihre Schwierigkeiten – von Heimweh über Sorgen um die in Lebensgefahr zurück gelassene Familie bis hin zu bürokratischen Schwierigkeiten. Aber wäre dieser Film ein Spielfilm, würde man ihm wohl einen zu flachen dramaturgischen Bogen und einen Mangel an Konflikten vorwerfen. Denn von Auseinandersetzungen zwischen den Dorfbewohnern und den Asylbewerbern oder gar von rassistisch motivierten Angriffen fehlt hier jede Spur. Wenn es keine gab, so ist das um so besser und es ist ja auch schön zu erfahren, dass ein solches Zusammenleben nicht immer vor allem von Konflikten geprägt sein muss. Vielleicht haben ja gerade die Dreharbeiten Genreiths dazu beigetragen, solche Konflikte abzubauen, weil sich die gefilmten und interviewten Einwohner so noch mehr mit ihren Gedanken und Gefühlen über die Neuankömmlinge auseinander setzen mussten. Wie auch immer, es ist schön, in den Begegnungen zwischen den Kulturen so viel Positives gezeigt zu bekommen. Dass dieses Zusammenleben dauerhaft so friedlich und fast problemlos abläuft wie hier dargestellt, glaube ich aber leider nicht.

Das dunkle Gen

Copyright: DOK.fest München / Das dunkle Gen

Auch „Das dunkle Gen“ behandelt ein aktuelles und wichtiges Thema: Depression. Wie auch bei „Ce qu’il reste de la folie“ und „Nicht alles schlucken“ handelt es sich hierbei um einen der Filme, die psychische Krankheiten, deren Konsequenzen und den Umgang mit ihnen zum Inhalt haben. Die Filmemacher Miriam Jakobs und Gerhard Schick begleiten in „Das dunkle Gen“ den selbst an Depression erkrankten Protagonsten Frank S. bei seinen Versuchen, den möglicherweise genetischen Ursachen der Depression auf den Grund zu gehen. Nun habe ich mir von dem Film keine endgültige Antwort auf die Frage erwartet, ob es denn ein „dunkles Gen“ gebe, wo genau im menschlichen Erbgut also die Anlagen zur Depression liegen. Ich war dann aber doch überrascht davon, wie sehr der Film zwischen verschiedenen (nicht immer interessanten) Gedanken hin und her schlingert. Frank S., der selbst Arzt ist und dessen Interessen vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich liegen, unterhält sich im Lauf des Films mit einer Molekulargenetikerin, einem Bildhauer, einer Komponistin und mehreren weiteren Wissenschaftlern. Der Zusammenhang wird hier nicht immer ganz klar und liegt wohl einzig in den Interessen des Protagonisten begründet. Und so ist „Das dunkle Gen“ auch kein Film, der Antworten liefert, sondern eher einer, der einen an Depression erkrankten Menschen auf seiner Reise der Genesung begleitet. Dabei ist manches interessant, manches weniger und mit Depression hat der Film mit zunehmendem Verlauf immer weniger zu tun. Dies spiegelt vielleicht die zunehmende Genesung von Frank S. wieder, macht den Film allerdings auch für den am Thema Depression interessierten Zuschauer zunehmend unbefriedigend. Auffallend ist, dass die beiden großen deutschen Festivalbeiträge zur Thematik – „Das dunkle Gen“ und „Nicht alles schlucken“ – die Psychotherapie weitgehend ausblenden und sich auf andere Aspekte im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten konzentrieren. („Das dunkle Gen“ startet am 11.06. regulär in den deutschen Kinos und auch „Nicht alles schlucken“ wird im Rahmen einer großen Kinotour noch in weiteren Kinos in ganz Deutschland zu sehen sein.)

DOK.fest München – Filme aus China

Das DOK.fest in München läuft noch bis zum Sonntag und ich werde zumindest heute und morgen noch ein paar Filme sehen. Auch in den letzten Tagen war ich fast jeden Tag auf dem Festival und habe zufälligerweise – ohne einen bewussten Schwerpunkt zu setzen – drei Filme aus der Reihe „DOK.guest“, die dieses Jahr dem Gastland China gewidmet ist, gesehen.

Little People Big Dreams

Copyright: DOK.fest München / Little People Big Dreams

Der erste davon war „Little People Big Dreams“. Darin geht es um einen Vergnügungsparkt namens „Dwarves Empire“, in dem kleinwüchsige Menschen wie in einem Zoo von Touristen bestaunt werden können. In China gebe es in etwa so viele körperlich behinderte Menschen, wie die Bundesrepublik Deutschland Einwohner hat, erklärt vor Filmbeginn eine Mitarbeiterin des DOK.fest. Einige von ihnen haben im Dwarves Empire Arbeit und leben unter ihresgleichen. Tagsüber liefern sie den Parkbesuchern eine lustige Show ab, Märchenkostüme und einstudierte Choreographien inklusive. Sie werden begafft, fotografiert und bekommen Fragen gestellt, die einem bei anderen Menschen gar nicht einfallen würden. Der Park bietet ihnen ein Zuhause und ein geregeltes Einkommen. Doch das ist natürlich nur die eine Seite. Die andere ist, dass hier Menschen zu Attraktionen eines Vergnügunsparks degradiert werden.

„Little People Big Dreams“ ist ein hoch interessanter Film, dem es gelingt, einen differenzierten Blick auf ein befremdlich erscheinendes Phänomen zu werfen. Der Film begleitet mehrere der kleinwüchsigen Angestellten des Parks über einen längeren Zeitraum, ohne dabei jedoch eine Wertung abzugegeben. Dabei zeigt sich, dass das „Dwarves Empire“ für seine Mitarbeiter Fluch oder Segen – oder auch beides zugleich – sein kann. Einige von ihnen fühlen sich darin zumindest eine Zeit lang durchaus wohl, weil sie unter ihresgleichen sind und sich wenigstens in ihrer Freizeit keine Sorgen über Ausgrenzung und Diskriminierung machen zu müssen. Doch das tägliche zur Schau stellen ihres Andersseins wird für einige zur seelischen Belastung und sie versuchen, aus dem Gewerbe auszusteigen – nicht immer mit Erfolg. Der Film zeichnet von ihnen allen ein Bild als Menschen mit gewöhnlichen menschlichen Sorgen und Sehnsüchten. Er reduziert sie nicht allein auf ihre Kleinwüchsigkeit, wodurch hier differenzierte Portraits der einzelnen Personen und damit ein interessanter Einblick in ein zugleich abstoßendes wie faszinierendes Phänomen entstehen. (Übrigens gab es bis in die 1970er Jahre auch in Deutschland eine „Liliputaner-Stadt“, in der kleinwüchsige Menschen bestaunt werden konnten. Im Süddeutsche Zeitung Magazin ist darüber 2013 ein interessanter Artikel erschienen.)

The Last Moose in Aoluguya

Copyright: DOK.fest München / The Last Moose in Aoluguya

Um eine weitere chinesische Randgruppe geht es in „The Last Moose in Aoluguya“. Die Minderheit der Rentier-Ewenken lebt im Nordosten Chinas. Eigentlich handelt es sich um einen Nomadenstamm, der jedoch von der Regierung in feste Camps umgesiedelt wurde. Damit jedoch hat man ihnen einen Großteil ihrer kulturellen Identität genommen: Die Jagd und die Rentierzucht. So jedenfalls steht es in der Inhaltsbeschreibung des Films auf der DOK.fest-Website. Der Film von Gu Tao gibt seinen Zuschauern leider kaum Informationen über diese Ausgangssituation. Man versteht durchaus schnell, dass hier etwas nicht stimmt. Der im Film portraitierte Weijia ist die meiste Zeit über betrunken und erst als seine Mutter ihm per Internetanzeige eine Freundin verschafft, beginnt er aus dem Kreislauf aus Trinken und Nichtstun auszubrechen. Ich hätte von dem Film allerdings mehr gehabt, wenn er nicht nur aus unkommentierten Aufnahmen bestanden hätte. Ein paar einleitende Worte oder ein erklärendes Voice Over hier und da hätten dem Zuschauer die nötigen Informationen liefern können, um das Gesehene einzuordnen. Der bei der Vorführung anwesenede Kameramann erledigte das für die anwesenden Zuschauer, doch der Film selbst bleibt ein wenig bruchstückhaft, wenn man mit der Materie nicht vertraut ist (und wer ist das schon?).

„The Last Moose in Aoluguya“ ist der dritte Teil einer Trilogie, für die der Regisseur über acht Jahre lang bei den Ewenki gelebt und gefilmt hat. Ohne Zweifel handelt es sich bei dem Film um eine herausragende Leistung, man muss allerdings einiges an Geduld und Konzentration aufbringen, um hier bei der Sache zu bleiben. Hoch interessant fand ich übrigens die Anmerkungen der Produzentin im an die Vorführung anschließenden Publikumsgespräch. Darin erläuterte sie, dass der Film auf einem Festival in China hätte gezeigt werden sollen, die Vorführung aber kurzfristig verboten wurde, weil die im Film an der Regierung geübte Kritik wohl nicht erwünscht war. Daraufhin strich man die Vorführungszeiten des Films im Programmheft des Festivals einfach durch. Die Festivalbesucher wurden auf diese Weise trotz des Verbots auf den Film aufmerksam gemacht. Für alle Interessierten wurden „private Vorstellungen“ organisiert, d.h. Vorführungen vor weniger als 50 Zuschauern, die nicht offiziell angemeldet werden müssen. Auf diese Weise konnte der Film also doch gezeigt und das Verbot umgangen werden.

The Iron Ministry

Copyright: DOK.fest München / The Iron Ministry

Bei „The Iron Ministry“, den ich gestern gesehen habe, handelt es sich zweifellos um einen der Höhepunkte des diesjährigen DOK.fest. Der Film von John Paul Sniadecki zeigt eine Zugfahrt durch China. Genau genommen wurde hier von 2011 bis 2013 in verschiedenen Zügen gefilmt, doch das spielt keine große Rolle. Die Kamera fängt den ganzen Film über des Geschehen im Inneren eines Zuges ein. Das bedeutet: Viele Menschen auf vergleichsweise engem Raum, die sich für mehrere Stunden nicht aus dem Weg gehen können. Den ganzen Film über hört man im Hintergrund das Rattern des Zuges, viel interessanter sind aber natürlich die Interaktionen zwischen den Fahrgästen, die man hier belauschen kann. Sie vertreiben sich die Zeit mit Essen, Schlafen und Unterhaltungen. Das klingt banal, ist aber hoch interessant (zumindest für mich als studierten Soziologen). Denn wie nebenbei erfährt man aus den Gesprächen so einiges über das moderne China. Ein junger Mann sagt, im Mittleren Osten könne es drunter und drüber gehen, China bleibe aber doch immer stabil. Ein anderer dagegen überlegt sich, aus China auszuwandern, wenn sich im Land nichts ändert.

In diesem Fall fand ich es überhaupt nicht störend, dass die Aufnahmen vollkommen unkommentiert gezeigt wurden. Im Gegenteil, das machte das Erlebnis nur noch unmittelbarer. Man fühlt sich tatsächlich mittendrin, als ein weiterer Fahrgast auf der Reise durch China. Einmal versucht der Kameramann, in ein anderes Abteil des Zuges vorzudringen, woran er jedoch gehindert wird. „Hier dürfen Sie nicht filmen. Machen Sie die Kamea aus.“, heißt es (und da musste ich an „Snowpiercer“ denken, jenen anderen Film, in dem anhand des Mikrokosmos Eisenbahn eine ganze Gesellschaft nachgezeichnet wird). „The Iron Ministry“ erzählt allein durch die aufgenommenen Gespräche und Situationen eine ganze Menge über das heutige China und ist hoch spannendes Kino.

Alle drei Filme werden jeweils noch einmal auf dem DOK.fest gezeigt:
„Little People Big Dreams“ am Freitag, 15.05. um 20:00 Uhr im Rio 1, „The Last Moose in Aoluguya“ am Samstag, 16.05. um 20:00 Uhr im Museum Fünf Kontinente und „The Iron Ministry“ am Samstag, 16.05. um 20:00 Uhr im Filmmuseum. Weitere Informationen gibt es auf der Website des DOK.fest.

Mehr vom DOK.fest München

Seit meinem letzten Blogpost zum DOK.fest sind schon wieder ein paar Tage vergangen und ich habe inzwischen einige weitere Filme gesehen. Ich fange gleich mal mit dem Film an, der mich bislang am meisten beeindruckt hat: „Dreamcatcher“ war der erste Film, für den ich sofort beim Verlassen des Kinos meine Eintrittskarte in die bereit gestellte Plexiglasbox geworfen habe, um dem Film meine Stimme für den Publikumspreis zu geben. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich den Film als Film so beeindruckend fand oder eben nur das, was er zum Inhalt hat. Doch selbst wenn „nur“ letzteres der Fall sein sollte – eine großartige Leistung stellt der Film trotzdem dar. Schließlich muss erst einmal jemand das Thema entdecken, Recherchen betreiben und mit der Kamera dran bleiben. Und das hat sich in diesem Fall definitiv gelohnt.

Brenda Myers-Powell

Copyright: DOK.fest München / Dreamcatcher

Aber worum geht es überhaupt in „Dreamcatcher“? Der Film begleitet die Chigagoer Sozialarbeiterin Brenda Myers-Powell bei der Arbeit. Sie arbeitet – teilweise ehrenamtlich – in Schulen, Gefängnissen und auf der Straße, wo sie Mädchen und junge Frauen berät und ihnen dabei hilft, den Kreislauf aus Prostitution und Drogensucht zu durchbrechen bzw. gar nicht erst in ihn hinein zu geraten. Brenda ist mit Leidenschaft, Energie und Glaubwürdigkeit bei der Sache. Sie weiß, wovon sie spricht, denn sie war selbst 25 Jahre in diesem Kreislauf gefangen, bevor ihr der Ausstieg gelang.

„Dreamcatcher“ – der Name kommt von der „Dreamcatcher Foundation“, für die Brenda arbeitet – lebt als Film voll und ganz von der beeindruckenden Persönlichkeit seiner Hauptfigur. Brenda ist in fast jeder Szene zu sehen und es hat den Anschein, als arbeite sie rund um die Uhr, um anderen Mädchen das zu ersparen, was sie 25 Jahre lang durch machen musste. Gerade aufgrund ihrer eigenen Vergangenheit ist sie in ihrer Arbeit so glaubwürdig. Brendas Persönlichkeit und damit auch der ganze Film verbreiten einen Optimismus, wie man es bei den teils schrecklichen Schicksalen, um die es hier geht, gar nicht erwarten würde. Doch Brenda gibt niemals auf, nimmt sich für jede einzelne Frau Zeit und bleibt hartnäckig bei der Sache, ganz egal wie aussichtslos die Lage auch hin und wieder zu sein scheint. Ihr Optimismus ist ansteckend und nach dem Film verlässt man das Kino mit dem Gefühl, dass alles möglich ist. Genau deshalb ist „Dreamcatcher“ ein so hervorragender Film: weil hier einerseits anhand von mehreren Einzelschicksalen ein Einblick in das harte Leben gegeben wird, dass die in Prostitution, Drogensucht und Kriminalität abgerutschen Frauen haben, der Film aber andererseits darüber hinaus geht und zeigt, was man zur Verbesserung der Lage tun kann. Jeder einzelne Mensch kann einen Unterschied machen. Der Film gibt Hoffnung – und das ist eine der wichtigsten Aufgaben von Filmen überhaupt. Zu zeigen, wie schlecht die Welt ist, ist gar nicht so schwer. Aber etwas dagegen zu tun, wie Brenda, und diese Botschaft zu verbreiten, wie dieser Film, das ist eine viel sinnvollere, noblere Aufgabe. Und genau weil „Dreamcatcher“ darin erfolgreich ist, handelt es sich hier um einen so großartigen Film. (Und genau darin unterscheidet er sich z.B. auch von „Nicht alles schlucken“, wo lediglich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass etwas im Argen ist, der aber kein Stück Hoffnung verbreitet.)

Das DOK.fest hat mir wieder einmal bewusst gemacht, wie erfüllend es sein kann, sich ganz auf einen Film einzulassen und für 90 Minuten nichts anderes zu tun, als auf eine beleuchtete Leinwand zu starren. Das mag banal klingen, aber gerade heutzutage ist es ja keineswegs selbstverständlich, sich nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren und das auch noch für 90 Minuten. Um so wichtiger ist das Kino: Denn hier gibt es keine Ablenkung, hier darf und muss man sich ganz auf das Geschehen auf der Leinwand konzentrieren. Das erfordert manchmal ein wenig Konzentration und Arbeit; nicht alle Filme, die ich bisher auf dem DOK.fest gesehen habe, hätte ich genauso konzentriert auch zu Hause angeschaut, wo ständig Ablenkungsmöglichkeiten lauern. Das musste ich wieder einmal feststellen, als ich versucht habe, mir einen Film aus dem Programm des DOK.fest zuhause per Presse-Stream anzuschauen.

For The Lost

Copyright: DOK.fest München / For The Lost

Bei „For The Lost“ handelt es sich den Informationen auf der Website zufolge um eine „bildgewaltige Meditation zu Vergessen und Gedächtnis“. Mich hat der Film allerdings eher ratlos zurück gelassen und besonders bildgewaltig fand ich ihn auch nicht. Man sieht Schafe, immer wieder Schafe. Karge Landschaften. Viele Aufnahmen in schwarz-weiß. Keinerlei Erläuterungen dazu, was man hier genau sieht, wo sich das ganze befindet oder um wen es geht. Statt dessen: vorgelesene Schicksale von Insassen einer Irrenanstalt aus dem 19. Jahrhundert. Aber wie hängt das alles zusammen? Warum wird hier nichts erklärt? Der Erkenntnisgewinn, den mir dieser Film bot, war fast nicht vorhanden. Und wenn mir vorher jemand gesagt hätte, es handele sich dabei um einen experimentellen Spielfilm, dann hätte ich das auch geglaubt. Ich muss zugeben, dass ich den Film nicht bis zum Ende angeschaut habe. Hätte ich ihn nicht zuhause, sondern im Kino gesehen, wäre ich wohl sehr, sehr müde geworden. Mich ganz auf den Film ein zu lassen, wäre mir jedenfalls auch dann sehr schwer gefallen, weil der Film es einem eben wirklich schwer macht. Aber auch das gehört zu den Erfahrungen, die man auf Filmfestivals macht: Es gibt immer wieder mal Filme, mit denen man überhaupt nichts anfangen kann. „For The Lost“ war in dieser Hinsicht auf dem DOK.fest für mich zum Glück eine Ausnahme.

„Dreamcatcher“ wird noch einmal am 14.05. um 20 Uhr im Filmmuseum gezeigt.
„For The Lost“ läuft noch zweimal: am 13.05. um 21:30 Uhr im Filmmuseum und am 14.05. um 16:00 Uhr im Gasteig (Vortragssaal der Bibliothek).
Weitere Infos gibt es auf der DOK.fest-Website.

DOK.fest 2015: Tag 2 & 3

Inzwischen hat sich bei mir richtiges Festivalfeeling eingestellt. Eigentlich wollte ich nämlich schon gestern einen neuen Blogpost verfassen, habe dann aber zu lang geschlafen, weil ich am Freitag zu spät ins Bett gekommen bin. So ist das halt auf Filmfestivals – es ist zu wenig Zeit, um wirklich alle tollen Filme zusehen und erst recht, um auch noch andere Dinge zu tun (zum Beipspiel komme ich auch kaum dazu, die Bücher und Zeitungen zu lesen, die ich mit mir von Kino zu Kino  schleppe). Hier ist nun also mein Bericht über die Filme, die ich gestern und vorgestern gesehen habe.

„El Hogar Al Revés“ erzählt von einer Clique Jugedlicher im mexikanischen Tijuana. Wobei der Film genau genommen gar nicht wirklich „erzählt“; was mir nämlich an „Man On Wire“ noch sehr stark aufgefallen ist – dass dort eine in ihrem dramaturgischen Aufbau fast schon fiktional wirkende Geschichte erzählt wird (was sich in diesem Fall auch anbietet) – das ist hier überhaupt nicht der Fall. Itzel Martínez del Cañizo begleitete die Jugendlichen für ihren Film über ein Jahr mit der Kamera und lässt den Zuschauer an deren Alltag teilhaben. Dabei vermittelt sie aber gerade, dass es hier nichts Außergewöhnliches zu erzählen gibt. Die Teenager tanzen auf der Straße, unterhalten sich über Videospiele und Popkultur, sprühen Graffiti auf eine Mauer und haben Sorgen in Liebesdingen. Ganz normale Jugendliche eben.

El Hogar Al Revés

Copyright: DOK.fest München / El Hogar Al Revés

Es fällt allerdings auf, dass den ganzen Film über kaum Erwachsene zu sehen sind. Bei der Siedlung, in der die Teenager leben, handelt es sich um eine am Reißbrett geplante Reihenhaussiedlung, die mich an die Vorstadthäuser aus Tim Burton-Filmen wie „Edward Scissorhands“ erinnert hat. Dutzende gleich aussehender Häuser reihen sich hier aneinander, und die Abwesenheit der Erwachsenen hat den einfachen Grund, dass diese die meiste Zeit über arbeiten, um die Kredite für die teuren Häuser abzubezahlen. So wachsen die Kinder fast nur unter sich auf und im Film wird dabei nicht der Eindruck erweckt, es ginge ihnen deswegen in irgendeiner Weise schlecht. Natürlich haben sie Sorgen und Probleme. Einer von ihnen, der in den USA geboren wurde, möchte dorthin zurück kehren. Ein anderer hat seine Freundin geschwängert. Weil die Eltern nie da sind, müssen die Teenager für einander da sein, um über all diese Dinge zu sprechen. Die Clique wird zur Ersatzfamilie. Einer der Jungen bringt es auf den Punkt als er sagt, seinen Freunden könne er alles erzählen, aber wenn er seiner Mutter berichte, was er den Tag über gemacht habe, dann höre die gar nicht richtig zu.

Ce Qu'il Reste De La Folie

Copyright: DOK.fest München / Ce Qu’il Reste De La Folie

Ähnlich beobachtend und ohne eine Wertung abzugeben ging es bei „Ce Qu’il Reste De La Folie“ weiter. Der Film von Joris Lachaise bringt dem Zuschauer den Alltag einer psychiatrischen Klinik im Senegal näher. Die Kamera blickt auf das Geschehen – Patienten, die die Pfleger anflehen, weil sie nicht in eine Einzelzelle gesperrt werden wollen oder auch solche, die die Welt um sich herum gar nicht richtig wahr zu nehmen scheinen. Dazwischen immer wieder die Schriftstellerin Khady Sylla, die selbst eine lange Geschichte psychischer Leiden hinter sich hat und nun von den Ärzten Antworten verlangt. Der Film zeigt aber nicht nur die westlich-moderne Herangehensweise an psyichische Krankheiten, wie sie in der Klinik praktiziert wird, sondern auch traditionelle und religiöse Heilungsmethoden. So wird man Zeuge von Ritualen, in die lebende Tiere eingebunden sind (hier habe ich mich an ähnliche Schilderungen aus Andrew Solomons großartiger Depressions-Studie „The Noonday Demon“ erinnert gefühlt, die auf deutsch als „Saturns Schatten“ erschienen ist). All das wird aber nicht kommentiert. „Ce Qu’il Reste De La Folie“ ist kein Film, der Antworten liefern will, sondern einer, der den Zuschauer zum Nachdenken anregt. Und das ist beim Thema „psychische Krankheiten“, über das noch immer viel zu viel geschwiegen wird, auf jeden Fall gut.

Gestern Nachmittag ließ ich mich in meinem ersten Film des Tages in die weiten Wüsten der USA entführen. Für jemanden wie mich, der von den Vereinigten Staaten bislang relativ wenig gesehen hat, sind die Größe und Vielfalt dieses Landes immer wieder faszinierend. Bei den USA denke ich als erstes an New York, Kalifornien und große Metropolen. Doch mitten in diesem Land gibt es weite Landstriche, in denen kaum ein Mensch lebt. „Desert Haze“ bringt dem Zuschauer einige davon nahe. Der Regisseurin Sofie Benoot gelingen dabei wunderschöne, fast schon meditative Bilder. In langen Einstellungen nimmt sie die wunderbaren, teils bizarren Landschaften in den Blick.

Desert Haze

Copyright: DOK.fest München / Desert Haze

Mit Leben gefüllt wird der Film durch die Menschen, die Benoot zusätzlich zu den Landschaften portraitiert. Da ist zum Beispiel der japanische Countrymusik-Liebhaber, der seit Jahrzehnten dort wohnt und vor der Kamera ein Ständchen gibt. Oder die Wissenschaftlerin, die in der Wüste den Aufenthalt auf dem Mars zu simulieren versucht. (Nur ganz nebenbei: Sie erzählt dabei unter anderem von den Vorteilen japanischer Steingärten, die sich schließlich auch dort anlegen lassen, wo die unwirtlichen Bedingungen kaum Vegetation zulassen. Solche Gärten könnten ihrer Meinung nach den ersten Menschen auf dem Mars als Orte der Entspannung und Beruhigung dienen. Dies zeigt mir einmal mehr, wie sehr die Zukunftsvision, die J. Michael Straczynski für „Babylon 5“ entworfen hat, in sich schlüssig und gut durchdacht ist – dort gibt es nämlich aus demselben Grund ebenfalls einen japanischen Steingarten auf der Raumstation.)

Mit seinen imposanten Bildern, den teils skurrilen Gestalten und den Geschichten, die sie zu erzählen haben, ist „Desert Haze“ ein zwar äußerst ruhiger und langsamer Film, der mich zumindest aber nie gelangweilt, sondern beruhigend auf mich gewirkt und Ehrfurcht vor der Natur in mir geweckt hat (auffallend viele andere Zuschauer haben allerdings während der Vorführung das Kino verlassen). Zusätzlich habe ich noch den einen oder anderen interessanten Fakt gelernt, zum Beispiel über die Atomwaffentests in der Wüste von Nevada (über die ich bislang nur aus „Indiana Jones“ bescheid wusste).

Drone

Copyright: DOK.fest München / Drone

Ganz und gar nicht ruhig und meditativ ging es anschließend mit „Drone“ weiter. Der Film nimmt die Praxis der USA unter die Lupe, mit Hilfe von unbemannten Drohnen vermeintliche Terroristen auszuschalten. Es kommen unter anderem ehemalige Drohnenpiloten zu Wort, die die Fluggeräte sicher vom Boden aus gesteuert und dabei zahlreiche Menschenleben ausgelöscht haben. Der Film klagt an, wirft Fragen auf und weist auf diejenigen Menschen hin, die unschuldig unter den Drohnenangriffen zu leiden haben: die überlebenden Angehörigen der Opfer, aber auch diejenigen, die den Angriffen als Unschuldige zum Opfer fallen. Wie kann so etwas überhaupt passieren? Und sind nicht alle Opfer der Drohnenangriffe zivile Opfer, da die USA ja niemals Beweise für deren terroristische Aktivitäten vorgelegt haben? Ganz besonders verstörend ist die am Schluss des Films aufgeworfene Frage, was eigentlich geschehen würde, wenn viel mehr Länder so verfahren würden wie die USA. Und kurios, aber nicht überraschend ist der Fakt, dass die Drohnentechnologie ursprünglich zur Beobachtung von Tunfischschwärmen entwickelt worden war. Kein einziges Exemplar sei an Fischer verkauft worden, erklärt einer der Entwickler im Film. Aber mit dem Krieg lässt sich ein Milliardengeschäft machen.

Nicht weniger verstörend, aber mit einem ganz anderen Thema beschäftigte sich mein letzter Film des Tages. „Nicht alles schlucken“ ist eine weitere Dokumentation, die sich mit einem der Schwerpunktthemen des diesjährigen DOK.fest beschäftig: Psyche und psychische Krankheiten. Wie der Titel schon andeutet, geht es hier vor allem um Psychopharmaka. Die Regisseure Jana Kalms, Piet Stolz und Sebastian Winkels haben dabei eine ebenso simple wie effektive Herangehensweise gewählt: Eine Reihe von Menschen, die zu dem Thema etwas zu sagen haben, sitzen im Stuhlkreis und berichten von ihren Erfahrungen. Unter ihnen sind Betroffene, Angehörige und einige Pfleger und Ärzte. Der Film vermittelt dem Zuschauer erfolgreich das Gefühl, mittendrin zu sein. Von der Mitte des Kreises aus gefilmt, fängt er die Sprechenden stets auf Augenhöhe ein, sodass man nie das Gefühl hat, zu ihnen herauf oder hinab schauen zu müssen. Kein Voice Over, keine Einblendungen und keine Musik lenken vom Geschehen ab. So konfrontiert der Film einen direkt mit den teils sehr harten Schicksalen, die in den Erlebnisberichten zum Ausdruck kommen.

Nicht alles schlucken

Copyright: DOK.fest München / Nicht alles schlucken

Dabei konzentriert sich „Nicht alles schlucken“ von Anfang an ganz auf die Praxis, psychisch kranke Patienten in Kliniken mit Medikamenten ruhig zu stellen und sie damit zwar vielleicht von ihren Symptomen zu befreien, ihnen aber auch einen Großteil ihrer Lebensqualität zu nehmen. Abhängigkeit und Nebenwirkungen bestimmen fortan das Leben vieler Betroffener, doch das Absetzen der Medikamente stellt häufig die schlimmere Alternative dar. Der Film ist wie gesagt in seiner Machart äußerst effektiv, inhaltlich war er mir allerdings viel zu einseitig. Dass Psychopharmaka durchaus vielen Menschen helfen, ohne ihr Leben zur Hölle zu machen, kommt hier nicht zur Sprache; ebenso fehlen Ausblicke auf mögliche Lösungsmöglichkeiten für das geschilderte Problem, was ich besonders schade finde. Gerade ein Film über dieses ernste, so viele Menschen betreffende Thema sollte meiner Meinung nach auch ein wenig Mut machen und Hoffnung verbreiten. Statt dessen könnte „Nicht alles schlucken“ im schlimmsten Fall sogar Zuschauer davon überzeugen, sich nie in eine psychiatrische Klinik zu begeben oder auf keinen Fall zu Psychopharmaka zu greifen, obwohl beides durchaus sinnvoll sein kann und längst nicht immer solch schwerwiegende Konsequenzen haben muss, wie sie hier geschildert werden.

Alle Filme werden im Lauf der nächsten Tage noch mehrmals auf dem DOK.fest München gezeigt. Weitere Infos und Trailer gibt es auf der Website des DOK.fest.

DOK.fest 2015: The Circus Dynasty

Gestern Abend wurde das 30. DOK.fest in München offiziell eröffnet. Die Eröffnung fand zum Jubuliäum erstmals im Deutschen Theater statt, wo sich die Anhänger des Dokumentarfilms in Scharen einfanden. Im Laufe der Eröffnungszeremonie war mal von 1.400, dann 1.800 und später 1.500 Gästen im fast ganz gefüllten Saal die Rede, der Regisseur des Eröffnungsfilms „The Circus Dynasty“, Anders Riis-Hansen, schaffte schließlich mit der Angabe „fast 2000 Gäste“ Klarheit.

Dass das Festival mit einem Besucherandrang dieser Größenordnung noch seine Probleme hatte, konnte jeder Gast beim Einlass erleben. Der Beginn der Veranstaltung war mit 20:00 Uhr angegeben, aber als ich um 19:45 Uhr eintraf, verstopfte eine große Menschentraube den Durchgang zum Innenhof des Theaters. Um Zugang zu erhalten, musste sich jeder Gast bei den DOK.fest-Mitarbeitern ein Armband abholen, doch die (kaum als solche erkennbaren) Warteschlangen vor den Schaltern wurden lange Zeit kaum kürzer. Als sich die Reihen endlich lichteten und ich fast am Schalter angelangt war, wurden aufgrund der inzwischen großen Verspätung alle noch wartenden Gäste einfach ohne Armband ins Theater durch gewunken. Das Ganze war definitiv sehr schlecht organisiert, aber Maya Reichert, die Moderatorin des Abends entschuldigte sich mehrfach und gelobte Besserung fürs nächste Jahr.

Nachdem alle Reden geschwungen waren, wurde das Theater für 90 Minuten zum Kino. Festivalleiter Daniel Sponsel hatte zuvor noch darüber sinniert, was man in einem Film über Liebe denn eigentlich genau zeigen und wie man das Thema dem Publikum vermitteln kann. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass es in „The Circus Dynasty“ gar nicht so sehr oder jedenfalls nicht hauptsächlich um Liebe geht. Die dänische Dokumentation erzählt aus dem Alltag zweier europäischer Zirkusfamilien – den Cassellys und den Berdinos – und versucht dabei, die jungen verliebten Artisten Merrylu Casselly und Patrick Berdino als Zirkus-Traumpaar ins Zentrum zu rücken. Die Verbindung der beiden stellt für deren Familien natürlich einen Glücksfall dar, lässt sich das hoch talentierte Paar doch hervorragend vermarkten und wird womöglich eines Tages für ebenso talentierten Nachwuchs sorgen.

Merrylu Casselly und Patrick Berdino

Foto Credit: DOK.fest München / The Circus Dynasty

Der Film stellt zwar zu Beginn die beiden Familien kurz jeweils in einem Standfoto vor. Darüber hinaus werden aber keine Erläuterungen zur Herkunft der Familien geliefert. Genauso wenig erfährt man, wo die Zirkusse ihre Zelte aufgeschlagen haben und die einzelnen Szenen gefilmt wurden. Zusätzlich verwirrt hat mich die Tatsache, dass Patrick Berdino anscheinend zu Beginn des Films bereits bei den Cassellys lebt. Wann genau es dazu kam (und ob seine Familie ihn widerspruchslos hat fort gehen lassen), erfährt man nicht. Für einige Zeit ist deshalb manchmal unklar, bei welcher Familie man sich gerade befindet. Es dauert eine Weile, bis man alle Personen und deren Beziehungen zueinander kennen gelernt hat. Da hätte Regisseur Riis-Hansen dem Zuschauer durch eine klarere und ausführlichere Einführung der Familienmitglieder zu Beginn des Films etwas Verwirrung ersparen können.

Wie erwähnt geht es zwar immer wieder um die Höhen und Tiefen der Beziehung zwischen Merrylu und Patrick, doch es sind eigentlich die anderen Aspekte des Films, die die viel interessanteren sind. Weil Riis-Hansen versucht, die Liebesgeschichte ins Zentrum zu rücken, werden viele davon leider nur angerissen. Da ist zum Beispiel der schwerreiche amerikanische Entertainment-Konzern, der extra einen Vertreter zu den Cassellys schickt, um sie zu einem mehrjährigen Engagement in den USA zu überreden. Oder das harte Zirkusleben im Allgemeinen: das jahrelange und tägliche Trainieren, die ständigen Ortswechsel usw. – zumindest mich hätte all das sehr interessiert, aber man erhält leider nur relativ kurze Einblicke in den harten Alltag eines Geschäfts, dessen Darbietungen in der Manege so leicht und mühelos wirken.

Der Film ist mir generell etwas zu oberflächlich geblieben. Riis-Hansen hat sich zwar entschieden, die Liebesgeschichte zum Zentrum seiner Geschichte zu machen, doch auch dabei hätte er ein wenig mehr nachbohren können. Er hätte zum Beispiel zumindest die Frage stellen sollen, ob die Beziehung zwischen Merrylu und Patrick nicht auch durch Druck ihrer Eltern zustande kam. Oder ob man als Zirkuskind jemals daran denkt, einen anderen Beruf zu ergreifen als die Eltern und ob nicht auch hier deren Erwartungen eine Rolle gespielt haben. Von Zweifeln und Konflikten ist im Film allerdings lange Zeit kaum etwas zu sehen. (Und es stellt keinen großen Spoiler dar, wenn ich verrate dass der einzige nennenswerte Konflikt die Liebesbeziehung betrifft. Schließlich braucht jede Liebesgeschichte einen dramaturgischen Spannungsbogen.)

„The Circus Dynasty“ ist also ein nur bedingt gelungener Film, der einem aber nicht das Gefühl vermittelt, umfassend über das Thema informiert zu werden. Riis-Hansens Versuch, eine Liebesgeschichte ins Zentrum zu stellen, macht den Film zwar recht kurzweilig und emotional, aber bei mir blieb vor allem der Eindruck zurück, dass hier weitaus interessantere Geschichten hätten erzählt werden können.

„The Circus Dynasty“ wird noch dreimal auf dem DOK.fest gezeigt. Infos über die genauen Zeiten und Spielorte sowie zu den Tickets gibt es hier.

DOK.fest 2015: Man On Wire

Heute Abend beginnt das DOK.fest (Dokumentarfilmfestival) in München. Ich bin dieses Jahr zum ersten Mal akkreditiert und habe das Festival schon einen Tag früher begonnen, indem ich gestern zuhause „Man On Wire“ angeschaut habe. Die oscarprämierte Dokumentation über Philippe Petits Drahtseilakt zwischen den Türmen des World Trade Centers läuft dieses Jahr im Rahmen einer Sonderreihe auf dem DOK.fest.

Normalerweise schaue ich nicht besonders viele Dokumentationen an – von den Special Features auf diversen DVDs mal abgesehen. Ich freue mich aber auf eine gute Wocher voller Dokus aus den verschiedensten Ländern und Themengebiente und will gleich mal ein paar Worte über „Man On Wire“ verlieren.

An diesem Film ist mir von Anfang an aufgefallen, wie sehr auch eine Dokumentation eine Geschichte und einen Spannungsbogen entwickeln muss, wenn sie interessant sein und ihr Publikum unterhalten will. Durch die Musik, den Schnitt und die Vorwegnahme von Aussagen zu Ereignissen, die man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht einordnen kann, wird bereits in den ersten Minuten des Films eine Atmosphäre der Spannung erzeugt. Weiterhin fand ich es interessant, wie viel an dieser Dokumentation zumindest im strengen Sinn nicht „dokumentiert“ ist, sondern für die Kamera neu erzählt werden musste, meistens in einer Kombination aus lebhaften Erzählungen und nachgestellten Szenen.

Ich wusste zuvor nichts über Philippe Petit oder seinen Drahtseilakt zwischen den Türmen. Umso mehr hat mich die Geschichte und auch die Persönlichkeit Petits beeindruckt. Seinen leidenschaftlichen und bildreichen Schilderungen der Vorbereitungen merkt man deutlich an, dass seine Hochseilkunst für ihn wirklich eine Passion im wahrsten Sinne des Wortes ist: er kann einfach gar nicht anders, muss es einfach tun. Dementsprechend lässt er sich auch von nichts und niemandem aufhalten, am allerwenigsten von der Ansicht, dass sein Vorhaben unmöglich sei. „It’s impossible, that’s sure. So let’s start working“, ist alles was er dazu zu sagen hat.

„Man On Wire“ ist also ein sehr unterhaltsamer, dramaturgisch geschickt aufgebauter Film, der einem verdeutlicht, dass hinter jedem bahnbrechenden, verrückten Vorhaben vor allem eine ausführliche, teils jahrelange Vorbereitung steckt. Das gefährlichste an der ganzen Unternehmung, sagt Petit am Ende des Films, sei es gewesen, nach dem erfolgreichen Drahtseilakt von den Polizisten nach der Festnahme die Treppe hinunter gestoßen worden zu sein. Na dann…

Im Oktober kommt die Geschichte übrigens als Spielfilm in die Kinos. Joseph Gordon-Levitt spielt Philippe Petit, Regie führt Robert Zemeckis („Flight“, „Forrest Gump“). Hier sind die Trailer bzw. Teaser zu beiden Filmen:


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Update:
Auf Filmszene.de findet ihr nun meine Filmkritik zu „The Walk“ von Robert Zemeckis.