Under The Skin – Der beste Film des Jahres

Spoilerwarnung! Dieser Blogpost enthält inhaltliche Details zu „Under The Skin“ und verrät u.a. das Ende des Films (das jedoch erst im letzten Abschnitt „Fremdheit als Methode“).

Nachdem ich mich in einem meiner letzten Blogposts auf die dunkle Seite der Macht begeben und mich äußerst emotional über den neuen, inhaltslosen „Die Tribute von Panem“-Fim aufgeregt habe, will ich nun ins andere Extrem ausschlagen und Jonathan Glazers „Under The Skin“ zum mit Abstand besten Film des Jahres erklären. In diesem Fall stehe ich mit meiner Meinung viel weniger alleine da, obwohl es durchaus Leute gibt, die mit dem Film überhaupt nichts anfangen können.

Der Film

„Under The Skin“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Michel Faber (auf deutsch erschienen als „Die Weltenwanderin“), wobei Jonathan Glazer und sein Co-Drehbuchautor Walter Campbell hier wirklich nur die Grundidee des Romans für den Film übernommen haben. Und die lautet: Ein als verführerische junge Frau getarntes Alien fährt mit dem Auto durch Schottland, um männliche Anhalter einzusammeln, die anschließend umgebracht und verspeist werden (wobei das mit dem Verspeisen im Film schon nicht mehr ganz eindeutig ist, aber dazu später mehr).

Ich habe „Under The Skin“ Anfang Juli auf dem Filmfest München zum ersten Mal gesehen – es war eines der beeindruckendsten Kinoerlebnisse meines Lebens. Ganz, ganz selten gibt es Filme von einer solch starken und eindrucksvollen bildlichen Erzählkraft, die dann auch noch ganz und gar im Dienst der Geschichte steht, so dass die Bilder nie zum Gimmick oder Selbstzweck verkommen. Mir fällt spontan nur ein einziger anderer Film ein, von dem man das ebenfalls behaupten kann (obwohl es sicher noch einige mehr gibt): „Blade Runner“. In beiden Fällen übernehmen die starken Bilder eine besonders wichtige Rolle bei der Vermittlung der Handlung und erzeugen eine einzigartige Atmosphäre, die einen geradezu in den Film hineinsaugt. Die ganz besondere, ausdrucksstarke Bildsprache von Jonathan Glazer und Ridley Scott (übrigens beide erfahrene Werbefilmer) ergänzt in beiden Fällen die Handlung des Films perfekt, so dass sich jeweils etwas Größeres, Einzigartiges ergibt. „Under The Skin“ ist ein Meisterwerk.

Dabei hätte der Film auch ganz anders aussehen können. Das Drehbuch hielt sich ursprünglich viel enger an den Roman, beinhaltete eine größere Zahl an Figuren und einige viel aufwändiger geplante Szenen (Glazer erzählt davon in den Dokumentationen auf der DVD/Blu-ray). Beispielsweise hätte der Beginn des Films, der die „Geburt“ von Scarlett Johanssons namenloser Figur zeigt, eigentlich wesentlich länger ausfallen sollen. Aus Geldmangel musste Glazer jedoch auf eine aufwändige Szene mit vielen Spezialeffekten verzichten, statt dessen wurde die Sequenz – und das gilt für den gesamten Film – auf ihr Wesentliches reduziert. Stellvertretend für die Formierung des Aliens in Menschengestalt sieht man in den ersten Minuten des Films zunächst nur schemenhaft erkennbare Formen. Dazu hört man Johanssons Stimme immer wieder sinnlose Silben und Laute wiederholen (sind das die Sprechübungen eines außerirdischen Wesens, das die englische Sprache erlernt?). Nach einigen Minuten wird aus den Schemen auf der Leinwand ein Auge. Eine Erklärung für all das wird nicht geliefert, man muss die Bilder und Töne selbst deuten. Genau das macht den Film so interessant und ergiebig. Er liefert eindrucksvolle, teils verstörende Bilder, bleibt deren Erklärung oder Interpretation aber schuldig. Diese Bilder bleiben manchmal vage und zeigen nie mehr als das, was nötig ist – eine sehr ökonomische, aber auch äußerst kraftvolle Art des Geschichtenerzählens, die eben aus der Not geboren wurde, dass hier nur begrenzte Mittel zur Verfügung standen.

Aber „Under The Skin“ kann nicht nur visuell begeistern, auch die Filmmusik von Mica Levi trägt einen entscheidenden Teil zur verstörenden, einzigartigen Atmosphäre des Films bei. Ebenso auf das Wesentliche reduziert wie die Bilder, wirkt auch sie gerade deshalb umso stärker. In den Verführungsszenen, in denen die Männer langsam in ihr Verderben laufen, erzeugt das eingesetzte Streichermotiv eine hypnotische, gleichzeitig warnende und doch sirenenhaft verlockende Wirkung. Ganz und gar nicht mehr verlockend, sondern nur noch furchteinflößend ist das Motiv lediglich am Ende des Films, als sich die Verhältnisse umkehren. Seit Hitchcocks „Psycho“ hatten Geigen in einem Film keine so verstörende Wirkung mehr wie in „Under The Skin“. (Hier kann man den brillanten Score von Mica Levi anhören.)

Um noch einmal auf das hier schon mehrmals benutzte Wort „verstörend“ zurück zu kommen: Mit diesem Wort lässt sich die Wirkung, die der Film auf mich hatte, am besten zusammen fassen. Die Reduktion der Geschichte auf ihre Kernelemente, der äußerst sparsame Einsatz von Dialogen in Verbindung mit einer meisterhaft komponierten Bildsprache und der Filmmusik, die klingt wie nicht von dieser Welt und nicht zuletzt auch Scarlett Johanssons Schauspiel, das über weite Strecken ohne Worte die erwachende Neugier eines fremden Wesens für das Menschsein glaubwürdig und nachvollziehbar darstellt – all das hat mich nach knapp zwei Stunden wie hypnotisiert im Kinosessel zurück gelassen. Ich konnte den Film lange nicht hinter mir lassen; er verfolgte mich auf dem Nachhauseweg bis in meine Träume und ließ mich wochenlang nicht mehr los. Das Gesamtkunstwerk, das alle Beteiligten hier erschaffen haben, rührt scheinbar an menschliche Urängste und bietet schon allein deshalb so guten Stoff für (Alp)Träume, weil die Erzählstruktur und die Bilder des Films selbst einem Traum ähneln. Tatsächlich war ich beim wiederholten Anschauen des Films erstaunt, einige Bilder darin zu sehen, von denen ich dachte, ich hätte sie lediglich geträumt. „Under The Skin“ scheint vom Unterbewusstsein seiner Schöpfer direkt auf die Leinwand geworfen worden zu sein und bahnt sich auch beim Zuschauer direkt den Weg zu im Unterbewusstsein lagernden Ängsten, Trieben und Sehnsüchten.

Das Science-Fiction-Genre wird häufig dazu genutzt, Aussagen über den aktuellen Zustand der Menschheit zu treffen, die so nur über den „Umweg“ über eine fremde, futuristische Welt möglich sind. Einerseits verfährt auch „Under The Skin“ nach diesem Schema, um elementare Fragen nach der Bedeutung des Menschseins zu stellen; andererseits reduziert Jonathan Glazer auch die Science Fiction-Elemente auf das gerade noch Nötige. Am Anfang des Films sind kurz die Lichter eines Raumschiffes zu sehen, das im wolkenverhangenen Himmel verschwindet. Viele Zuschauer werden es beim einmaligen Anschauen des Films gar nicht bewusst wahrnehmen. Und gerade weil die Fremdheit von Scarlett Johanssons Figur so allgemein gehalten wird, ist ihre Aussagekraft umso gößer. Das einzige außerirdische – oder besser, da allgemeingültiger: fremdartige – Element, das der Film zeigt, ist die Psychologie seiner Hauptfigur (vgl. diese Besprechung des Films). Natürlich gibt es die Szenen, in denen die von der Protagonistin angelockten, ahnungs- und scheinbar willenlosen Männer in ein schwarzes Nichts hineingleiten, das später nichts von ihnen zurück lässt als ihre Haut. Doch was genau dabei geschieht, lässt der Film offen, was den Vorgang nur noch, ja, verstörender macht. Sollen diese Bilder lediglich Metaphern sein? Oder sind sie wörtlich zu nehmen, geschieht hier also exakt das, was man sieht? Und wenn ja, was geschieht dann eigentlich? Wie soll das funktionieren, dass Menschen in einem schwarzen Nichts versinken, das sie in einem blitzartigem Sog ihrer Innereien entledigt? „Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.“, lautet das dritte der von Arthur C. Clarke formulierten Gesetze, und dementsprechend finde ich, dass man über das Wie dieser Szenen nicht nachdenken braucht. Was dort aber gezeigt wird, das ist trotz der starken Bilder nicht ganz klar. Geht es den Auftraggebern von Johanssons Figur um die Innereien der gefangenen Männer? Oder haben sie es auf deren Haut abgesehen? (Schließlich könnte man das Abfließen des aus der Haut gesaugten Inhalts auch als davon fließenden Abfall interpretieren.)

Überhaupt wirft der Film viele Fragen auf. Da er zwar wie gesagt ausdrucksstarke Bilder bietet, sie aber nicht erklärt und ihre Interpretation vollkommen dem Zuschauer überlässt, sind hier zahlreiche verschiedene Auslegungen des Geschehens möglich. Warum beispielsweise ist die Hauptfigur des Films überhaupt auf der Erde? Ist sie ein eigenständig handelndes Individuum oder nur eine von vielen, die ähnliche Aufträge ausführen? In welchem Verhältnis steht sie zu dem Motorradfahrer, der immer wieder hinter ihr aufzuräumen scheint? Ist er ihr Kollege oder ihr Vorgesetzter? Er scheint sie jedenfalls zu überwachen, wie die vollkommen wortlose Szene nahelegt, in der er ihre Augen inspiziert. Und falls es zutrifft, dass Menschenfleisch für die Außerirdischen eine Nahrungsquelle darstellt (wie es der Roman nahelegt), warum haben sie dann diese scheinbar so umständliche Methode zu seiner Gewinnung gewählt? Warum fallen sie nicht ganz offen über die Erde her und sammeln uns Menschen ein?

Die Bilder von „Under The Skin“ sind jedenfalls von einer unbeschreiblichen Wucht. Sie stellen Kino in seiner reinsten Form dar und wollen, ja müssen auf der großen Leinwand erlebt werden, um ihre Wirkung voll entfalten zu können. Umso trauriger ist es, dass sich der zuständige Senator Filmverleih dazu entschieden hat, den Film in Deutschland nicht ins Kino zu bringen, angeblich weil hierzulande „kein Markt“ dafür vorhanden zu sein scheint. Das ist äußerst bedauernswert, allerdings hat die daraufhin ins Leben gerufene Kampagne, die sich für einen Kinostart von „Under The Skin“ einsetzt, durchaus Erfolge gezeigt. So haben in den letzten Monaten bundesweit mehr und mehr Kinos den Film in ihr Programm genommen, obwohl ihm offiziell gar kein Kinostart vergönnt war und er seit Mitte Oktober als DVD und Blu-ray zu haben ist. (Inzwischen ist er aus den meisten Kinos wieder verschwunden, aber vielleicht findet der eine oder andere Filminteressierte auf dieser Website doch noch ein Kino, in dem der Film noch läuft.)

Die Buchvorlage

Wie ich schon erwähnt habe, wurde die Handlung des Romans für die Verfilmung auf ihre grundlegenden Elemente reduziert. Während der Film sich vor allem darauf konzentriert, das menschliche Dasein aus einer verfremdeten Perspektive zu betrachten (dazu weiter unten mehr), geht Michel Faber in seinem Roman „Die Weltenwanderin“ viel ausführlicher auf den Prozess der Nahrungsgewinnung ein – denn zu keinem anderen Zweck sammelt die Hauptfigur Männer von der Straße ein. Im Buch trägt diese Hauptfigur den Namen Isserly und gehört einer Spezies von hundeartigen Außerirdischen an, die normalerweise über ein dichtes Fell und große Ohren verfügen und auf vier Beinen laufen. Da Isserly aber als menschliche Frau getarnt auf Männerfang geht, wurde sie operiert, um menschlich auszusehen. Unter anderem wurde ihre Wirbelsäule „begradigt“, sie bekam menschlich-weibliche Brüste verpasst und rasiert sich zudem regelmäßig, damit ihr kein Fell wächst. Zudem trägt sie eine Brille mit dicken Gläsern, die ihre fremdartigen Augen tarnen soll.

Neben Isserly lernen wir im Buch noch einige weitere Angehörige ihrer Spezies kennen. Zur Tarnung betreiben die Aliens einen Bauernhof. Isserlys Vorgesetzter Esswis, der als einiziger von ihnen ebenfalls zum Menschen umoperiert worden ist, tritt als dessen Besitzer auf, bemüht sich jedoch, den Kontakt zu den Menschen auf ein Minimum zu beschränken, um den wahren Zweck der Einrichtung geheim zu halten: Im Untergrund befindet sich dort nämlich so etwas wie ein „Massenmenschhaltungsbetrieb“, in dem die von Isserly herbei geschafften Männer gemästet und schließlich geschlachtet werden. Dort arbeiten zahlreiche weitere Außerirdische, deren äußeres Erscheinungsbild allerdings nicht verändert wurde. (Es ist anzunehmen, dass es sich bei Esswis um die Rolle handelt, die in einer frühen Drehbuchfassung des Films von Brad Pitt hätte gespielt werden sollen.)

Wie im Film fährt Isserly mit dem Auto durch die Gegend, auf der Suche nach männlichen Anhaltern, die sie dann mitnimmt und im Auto ausfragt. Wenn sich herausstellt, dass ihr Mitfahrer keine Familie hat und bei seinem Verschwinden die Spur nicht zu ihr zurück verfolgt werden kann, betätigt Isserly einen am Lenkrad angebrachten Schalter, der aus dem Beifahrersitz zwei Nadeln fahren lässt, die ihrem Opfer ein lähmendes Gift injezieren. Die so überwältigten Männer bringt Isserly anschließend in die unterirdischen Etagen des Bauernhofs, wo man ihnen die Zunge abschneidet und sie kastriert, sie aber vorerst am Leben lässt und mästet. Nach einigen Monaten werden die fett gewordenen Männer schließlich getötet und ihr Fleisch palettenweise auf den Heimatplaneten der Außerirdischen geflogen, wo es offenbar als Delikatesse gilt.

Buch und Film haben gemeinsam, dass nur nach und nach enthüllt wird, was genau vor sich geht. So ist zu Beginn des Romans beispielsweise noch nicht klar, dass es sich bei Isserly nicht um einen Mensch handelt. Auch die verschiedenen Kellergeschosse der Fleischfabrik und die dortigen Geschehnisse werden über den Roman verteilt eines nach dem anderen geschildert. Zudem bietet das Buch – genau wie der Film – ein paar schockierende Bilder, bei denen man das eine oder andere Mal schlucken muss – zum Beispiel bei Fabers Schilderung des Daseins der stummen und hilflosen Männer, kurz bevor sie zu wohlschmeckenden Filets verarbeitet werden.

Interessanterweise bezeichnen sich die Außerirdischen im Roman selbst als „human beings“ und sehen uns Menschen als primitive, nicht zu komplexer sprachlicher Kommunikation fähige Wesen, was ihnen als Rechtfertigung dient, uns  einzufangen und zu essen. (Man muss nicht viel Interpretationsarbeit betreiben, um zu sehen, dass Faber hier eine Metapher auf den Fleischkonsum und die Massentierhaltung der menschlichen Gesellschaft geschrieben hat.) Isserly, die durch ihre Arbeit regelmäßig Kontakt zu Menschen hat, weiß es besser, behält diese Informationen aber aus Angst vor ihren Vorgesetzten für sich. Es ist dieser Aspekt des Kennenlernens einer fremden (nämlich unserer menschlichen) Kultur und die damit einhergehende Vermenschlichung der Hauptfigur, auf den sich Jonathan Glazer in seiner Verfilmung konzentriert hat.

Erwähnenswert ist noch die recht interessante Episode im Roman, als Amlis, der Sohn des Firmenchefs, dem Bauernhof einen Besuch abstattet, um den Betrieb zu inspizieren. Pikanterweise ist Amlis Vegetarier und hält es für falsch „vodsels“, wie die Außerirdischen uns Menschen nennen, als niedere Wesen zu betrachten, die ohne Rücksicht auf ihre Gefühle gemästet und gegessen werden.

Wie durch diese Beschreibung des Romans deutlich wurde, haben sich Walter Campbell und Jonathan Glazer in ihrem Drehbuch wirklich nur auf die Grundidee des Romans gestützt. Zwar enthielten frühere Drehbuchfassungen noch eine größere Anzahl an Figuren und mehr Übereinstimmungen mit dem Buch, doch sowohl finanzielle Notwendigkeiten als auch der Wunsch, sich ganz auf die außerirdische Hauptfigur zu konzentrieren, die unser menschliches Dasein erkundet, führten schließlich zu dem in seiner Handlung sehr reduzierten, aber nichtsdestotrotz äußerst komplexen Film.

Fremdheit als Methode

Da ich Soziologie studiert habe und mich für meine Abschlussprüfungen mehrere Monate lang unter anderem mit dem Phänomen der Fremdheit bzw. des Fremden beschäftigt habe, sind mir in „Under The Skin“ einige Dinge aufgefallen, die ich so oder ähnlich im Studium kennen gelernt habe. Scarlett Johansson spielt ja im Grunde nichts anderes, als eine völlig Fremde. Eine Außerirdische allein unter Menschen, das ist geradzu das Paradebeispiel für Fremdheit. Die Menschen, denen sie begegnet, erkennen sie allerdings nicht als Fremde, da sie wie ein Mensch aussieht und auch wie einer spricht. (Johansson spricht im Film zwar mit einem Londoner Akzent, insofern hat sie für die Schotten, mit denen sie interagiert, durchaus etwas Fremdes an sich – viele dieser Begegnungen wurden übrigens mit versteckten Kameras gefilmt und entstanden mit „echten“ Passanten, die erst im Nachhinein über den Filmdreh aufgeklärt wurden. Aber in der Welt des Films wissen die Menschen um sie herum natürlich nicht, dass sie kein Mensch ist.) Für Isserly – ich benutze jetzt mal den Namen aus dem Buch, obwohl sie im Film namenlos bleibt – sind die Welt und die Lebewesen um sie herum vollkommen fremd. Sie selbst unterscheidet sich deutlich von den Menschen, diese Differenz ist jedoch verborgen und wird deshalb für die Menschen um Isserly nicht relevant. Damit haben wir hier einen Sonderfall von Fremdheit vor uns. Normalerweise wird eine solche Differenz nämlich dann relevant, wenn ein Fremder in eine Gruppe kommt. In diesem Fall aber wird die Differenz, das Außerirdische, bewusst getarnt.
Als eines der wesentlichen Merkmale des Fremden beschreibt der Soziologe Georg Simmel dessen Objektivität. Da der Fremde über die Gruppe, in der er sich nun befindet, kaum etwas weiß und ihm die Gebräuche und Denkweisen der Menschen dort fremd sind, verfügt er über eine gewisse Freiheit, die die „festen“ Gruppenmitglieder nicht besitzen und die es ihm gestattet, das Leben um sich herum aus einer sich von der ihren unterscheidenden Perspektive wahrzunehmen. Aufgrund seiner Herkunft und damit völlig anderen Lebensweise bringt er eine andere Sichtweise der Dinge mit, als sie den Gruppenmitgliedern gegeben ist. Interessanterweise hat Scarlett Johansson schon einmal ein solches Wesen gespielt, in „Lost In Translation“, wo es ja auch u.a. um das Thema Fremdheit ging.

Natürlich kann jeder Fremde mit der Zeit zum (fast) vollwertigen Gruppenmitglied werden, das sich immer weniger von den übrigen Mitgliedern unterscheidet und in diesem Sinne immer weniger fremd wird. Solange diese Annäherung aber noch nicht ausreichend stattgefunden hat, verfügt der Fremde – wie es Alfred Schütz beschreibt – über einen anderen Wissenstypus als die festen Gruppenmitglieder. Er sieht die Welt nicht so, wie die Menschen um ihn herum, was immer dann relevant wird, wenn er mit diesen interagiert und dabei deutlich wird, dass ihm die Möglichkeit zur Bezugnahme auf eine gemeinsam geteilte Welt fehlt. Sein „Denken-wie-üblich“ erweist sich dann als nicht mehr wirksam, bestehende Rezepte zur Auslegung der Welt funktionieren nicht mehr. Der Fremde gerät in eine „Krisis“. (Dazu haben wir damals in einem Seminar einen Filmausschnitt aus „Lost In Translation“ angeschaut, in dem – soweit ich mich erinnere – Scarlett Johansson einer Freundin am Telefon schildert, wie unwohl sie sich im für sie fremden Japan fühlt und schließlich in Tränen ausbricht.)

Die beschriebene Objektivität des Fremden und seine Nichtzugehörigkekt führen auch dazu, dass der Fremde als der „Unentscheibare“ gilt, wie Zygmunt Bauman es formuliert. Das kann positive und negative Auswirkungen für ihn haben. Einerseits liegt gerade in dieser Unbestimmtheit ein großer Spielraum an Möglichkeiten, aber es liegt eben auch noch viel Integrationsarbeit vor dem Fremden, wie das „Lost In Translation“-Beispiel zeigt. Auch Isserly in „Under The Skin“ macht dieses Unentscheidbare zu schaffen. Sie ist den Menschen um sich herum zwar räumlich nah, doch sozial ist sie ihnen fern und enspricht damit ziemlich genau der von Simmel gegebenen Definition des Fremden. Zu dieser gehört auch, dass der Fremde derjenige ist, „der heute kommt und morgen bleibt“, der also nicht nur ein vorrübergehender Besucher ist. Genau das ist auch bei Isserly der Fall, wobei hier allerdings noch dazu kommt, dass sie ihre Tarnung aufrecht erhalten muss und sich den Menschen in ihrer Umgebung gar nicht besonders weit annähern darf. Sie kann also gar nicht zu einem festen Gruppenmitglied werde (in diesem Fall zu einem Menschen, genauer: einem Schotten), sondern muss dauerhaft fremd bleiben.

Eine ähnliche Sichtweise wie die des Fremden, der aus einer anderen Perspektive auf die Menschen blickt, versuchen auch Soziologen häufig einzunehmen. Sie streben danach, eine andere Perspektive einzunehemen, um die soziale Welt um sie herum „von außen“ zu beschreiben und so alle Vorgänge in ihr zu hinterfragen. Jonathan Glazer verfährt in „Under The Skin“ ganz ähnlich; er macht gewissermaßen seine Hauptfigur zur Soziologin (oder Ethnologin) und mit ihr auch die Zuschauer. Wir sehen durch Isserlys Augen unsere eigene Welt ganz neu, denn es ist natürlich keine fremde Welt, die wir hier erforschen, sondern unsere eigene. Sie wird allerdings dadurch fremd gemacht, dass wir sie im Film aus der Perspektive eines Außerirdischen sehen. Soziologisch gesprochen findet dabei ein „Othering“ bzw. eine „VerAnderung“ statt, das heißt es wird ein kulturelles Feld methodisch als fremd behandelt und kann auf diese Weise mit ähnlich Mitteln erforscht werden wie eine tatsächlich fremde Kultur. Unsere eigene, menschliche und vertraute Welt erscheint uns aus der Sichtweise eines Aliens plötzlich als fremd. „Under The Skin“ lässt so den Zuschauer die Welt durch die „soziologische Brille“ sehen.

Eines der stärksten Bilder des Films ist diebezüglich das allein am Strand zurück gelassene Baby. Ein zufällig vorbei kommender Mensch würde sich sofort um das Baby kümmern, nach seinen Eltern suchen und es nach erfolgloser Suche schließlich mitnehmen, auf keinen Fall aber allein am Strand sitzen lassen. Isserly jedoch ist kein Mensch; in ihrem Relevanzschema nimmt das Baby keine besondere Bedeutung ein (schließlich ist sie nur auf der Suche nach gesunden, jungen Männern). Sie nimmt es zwar kurz wahr, betrachtet es jedoch vollkommen objektiv und als etwas ihr Fremdes und lässt es schließlich trotz seiner Schreie zurück. Schließlich zeigt der Film eine letzte Einstellung des einsam am Ufer sitzenden und schreienden Babys, das erfolglos versucht, aufzustehen. Mit einem Mal wird einem die völlige Hilflosigkeit des Menschen in diesem sehr jungen Alter bewusst.

Kurze Zeit später im Film begegnet Isserly einem weiteren Baby, das in einem an der Ampel neben ihr haltenden Auto sitzt – und ungefähr zu diesem Zeitpunkt scheint eine Veränderung in ihr in Gang zu kommen. Nach und nach sieht sie die Menschen nicht mehr völlig objektiv und als bloße Mittel zum Zweck. Sie beginnt sich für sie zu interessieren, und zwar nicht nur im Sinne eines „Verstehens von außen“; sie will nun die menschliche Kultur von innen heraus kennen lernen, sich selbst darin ausprobieren und damit auch ihr eigenes Menschsein erforschen (so paradox das bei einem Außerirdischen auch klingen mag). Fremdheit zu erleben, heißt auch, die Fragwürdigkeit des Eigenen zu spüren und erstmals bewusst die eigene Identität in Frage zu stellen. Obwohl ihr Job es verlangt, dass sie rational und objektiv mit den Menschen umgeht und sie buchstäblich als Ware behandelt, kann Isserly diese Einstellung nicht durchgehend aufrecht erhalten. Die Szene, in der der Motorradfahrer sie von allen Seiten prüfend ansieht und dabei ihren Augen besondere Aufmerksamkeit schenkt, zeigt, dass Isserlys Vorgesetzte offenbar erste Zweifel daran gekommen sind, ob sie ihre Arbeit noch wie vorgesehen ausführen kann. Dies zeigt sich auch ganz klar daran, dass sie eines ihrer Opfer wieder freilässt – aus Mitgefühl?

Zu Beginn des Films sehen wir, dass Isserly nicht die erste Arbeiterin ist, die für die Außerirdischen auf Männerjagd geht. Ihre Vorgängerin, die in die gleiche menschliche Haut gekleidet ist wie sie selbst und damit ebenfalls aussieht wie Scarlett Johansson, liegt scheinbar tot vor ihr. Isserly zieht die Kleidung der Toten an, auf deren Gesicht eine Träne zu sehen ist – ein Zeichen dafür, dass auch sie schon mehr als nur eine bloße Beobachterin sein wollte? Hat auch sie bereits versucht, Teil der menschlichen Gesellschaft zu werden und begonnen, menschliche Gefühle zu entwickeln? Für Isserly selbst wird dieser Versuch – genau wie für ihre Vorgängerin – nicht gut ausgehen. (Übrigens fällt mir gerade auf, wie viele inhaltliche Parallelen sich hier zu „Blade Runner“ finden lassen, aber das würde dann doch zu weit führen.)

Isserly ist also – genau wie ein beobachtender und forschender Soziologe oder Ethnologe – dazu gezwungen, objektiv zu bleiben und sich das Feld, in dem sie sich bewegt, rational und mit einem gewissen emotionalen Abstand anzuschauen. Dies gelingt ihr jedoch nicht; sie möchte schließlich das Menschsein selbst erleben und „von innen heraus“ verstehen, statt es nur „von außen“ zu betrachten. Man könnte also behaupten, dass sie der Gefahr des „going native“ erliegt. Sie verliert durch ihr zu starkes Interesse an der menschlichen Natur und ihre Bemühungen, selbst menschlich zu werden, ihre Objektivität. Letztendlich führt genau das zu ihrem Ende, so wie es vermutlich auch bei ihrer Vorgängerin der Fall war. (Interessante Nebenfrage: Die wievielte „Version“ einer solchen Arbeiterin ist Isserly eigentlich? Führt u.a. vielleicht gerade das Bewusstsein, nur eine von vielen austauschbaren Arbeiterinnen zu sein zu dem Streben nach [menschlicher] Identität? Und wird bei all diesen Arbeiterinnen stets der Wunsch nach einer eigenen Identität und der daraus folgenden versuchten Annäherung an das Menschsein früher oder später zum Problem? Dass Isserly durch den Motorradfahrer genau geprüft wird, scheint zumindest darauf hin zu deuten, dass die Außerirdischen bereits Erfahrungen mit dieser Problematik gemacht haben.)

Das Ende des Films ist ein tragisches. Isserlys Streben nach Identität, nach dem Menschsein und nach einem Kennenlernen der menschlichen Spezies führt zu ihrem Untergang. Sie will die Menschheit besser kennen lernen und muss leider feststellen, dass dieser auch das Schlechte und Böse innewohnt. Diese Erfahrung macht sie gewissermaßen gleich zweimal: Zuerst, als ein Mann sie – als sie noch die Gestalt einer schönen Frau hat – im Wald zu vergewaltigen versucht und anschließend noch einmal, als dieser Mann sie – nachdem er einen Blick auf ihre wahre Gestalt erhascht hat – mit Benzin übergießt und anzündet. In diesem Moment ist sie ganz klar als Fremde zu erkennen. Sie wirkt auf den Mann so fremd, so anders, dass er in seiner Angst vor diesem Anderen, Unerklärbaren zu drastischen Mitteln greift und sie vernichtet.

Fazit

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, wie komplex „Under The Skin“ ist. Der Film ist nicht nur handwerklich ein Meisterwerk, sondern auch von einer solch umfangreichen inhaltlichen Aussagekraft, dass man wohl noch wesentlich mehr analysieren und interpretieren könnte. Meine kurze Interpretation aus soziologischer Sicht ist nur ein möglicher Ansatz. Zum Schluss möchte ich noch ein paar interessante Links posten: Hier gibt es ein Interview mit Jonathan Glazer, in dem er auch auf die Tatsache angesprochen wird, dass der deutsche Verleih „Under The Skin“ hierzulande nicht ins Kino gebracht hat. Hier gibt es ein interessantes, langes Interview mit Adam Pearson, dem Darsteller des deformierten Mannes, den Isserly gefangen nimmt und später wieder frei lässt. Und hier geht es zu einer YouTube-Playlist mit Musikvideos von Glazer – sehr zu empfehlen!

Ein Gedanke zu “Under The Skin – Der beste Film des Jahres

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